Reicht artig sein, um nicht fremd zu sein?
So fragt meine neue Tasche von „Integration im Blick“ unter der Überschrift „fremdartig“.
In einem „Vademecum für den Umgang mit chinesischen Geschäftspartnern“ – was wir nicht alles im Rathaus haben! Tja, wir kriegen manchmal entlegenen Besuch… - habe ich gefunden, dass es in China als unartig gilt, sich in Gesellschaft zu schnäuzen; dafür geht man aufs Klo und tut es heimlich und ganz privat. Gut zu wissen, man will ja niemanden ungewollt beleidigen. Allerdings, in China gilt es auch als unartig, über Menschenrechte oder Tibet zu sprechen. Ich finde, man sollte es hin und wieder dennoch tun, man muss ja nicht immer höflich sein wollen.
Offensichtlich, was als „artig“ durchgeht, ist nicht für alle Menschen dasselbe.
Meine Kinder galten bei älteren Damen und vielen LehrerInnen als recht artig. Tatsächlich. Ich weiß aber, sie konnten auch ganz schön unartig sein und die Sau rauslassen, z. B. mir gegenüber (aber an der Gehsteigkante haben sie immer brav gewartet, weil sie wussten, dass ich sonst Angst kriege, und das wollten sie ja nicht). Sie wussten einfach, dass verschiedene Menschen verschiedene Vorstellungen von „artig“ haben, dass verschiedenen Menschen Verschiedenes zuzumuten ist, und dass „artig“ schlicht kontextabhängig ist. Ich glaube, sowas nennt man „soziale Intelligenz“. Die lernt man, habe ich gehört, wenn man sich selber akzeptiert und respektiert fühlt.
Menschen in ihrer Verschiedenheit und Besonderheit respektieren, ist sicher artig. Das sollten eigentlich alle. Aber müssen „Fremde“ so artig sein, wie wir es gerne hätten? Gesetzestreu – das ja, unbedingt; das ist die Grundlage für friedliches Zusammenleben. Aber angepasst, unauffällig, assimiliert? Nein danke, da ist mir „unartig“ lieber.
„Fremd“ ist ja spannender als „eh scho wissen“. Oft. Nicht immer. Fremde sind ja normal, für uns städtische Menschen. Was die Stadt von einem zu groß geratenen Dorf unterscheidet, sagt Jane Jacobs, ist das: Sie ist voll von Fremden. Ich treffe jeden Tag mehr Fremde als Bekannte. (The Death and Life of Great American Cities. New York, 1961. S. 30) Solange wir einander als BürgerInnen respektieren, können wir uns trotzdem sicher fühlen. Ich muss ja nicht alle mögen.
Liebe „Fremde“: Ihr müsst nicht artig sein. Schon gar nicht gleichartig. Es reicht, wenn Ihr menschlich seid. Dann sind wir uns ähnlich genug.
Mag. Gerhard Fritz
Amtsführender Stadtrat