"Erzähl mir deine Geschichte ..." Schlaglichter auf neun intensive Kommunikationsprozesse.
Oscar Thomas-Olalde, wissenschaftliche Begleitung 1
Das Besondere am Projekt „VIELFALT daheim IN TIROL“ war die Offenheit des Konzeptes, wodurch unterschiedliche Lebenswelten spürbar, unterschiedliche Stimmen hörbar und gegensätzliche Positionen zu den Themen Migration und Vielfalt in Tirol wahrnehmbar wurden. Das Ziel war der Prozess; weder Themen noch Vorgehensweisen wurden vorgegeben. Bestimmte Rollen („KünstlerIn“, „MigrantIn“, „Sozialwissenschaftlerin“) und Rahmenbedingungen der Kommunikation waren hingegen festgelegt. Diese Offenheit war gewissermaßen eine Zumutung, aber eine produktive, mit all ihren Widersprüchen. Es konnte Neues (Begegnungen, Positionen, Kunst, Reflexionen) „produziert“ werden, und es wurde Gegebenes (Rollen, Privilegien, strukturelle Ungleichheiten) „re-produziert“. Die Kommunikationsprozesse in den Arbeitsgruppen legten vieles offen: die Vielschichtigkeit von Identitäten, die Normalität von Migration, die manchmal subtile und manchmal massive institutionelle Gewalt von Rassismus, die Relativität von „kulturellen Unterschieden“, die Illusion der Augenhöhe, die Wirkmächtigkeit von strukturellen Ungleichheiten, die kreative und oft humorvolle Widerständigkeit von Menschen, ihre Offenheit für Begegnung, Dialogbereitschaft und Kritikbegabung. Basierend auf den von den Sozialwissenschaftlerinnen erstellten Gesprächsprotokollen werden hier einige Momente und Dynamiken in der Kommunikation nachgezeichnet. Es werden Momente skizziert, die beispielhaft für zentrale Aspekte in der Diskussion um „Migration“ und „Integration“ stehen können. Wichtig ist, dass diese Reflexionen nicht als Deutung oder gar als Wahrheit über die Beteiligten und ihre Kommunikation untereinander verstanden werden darf. Hier kommen nicht „authentische Stimmen“ zu Wort, sondern es werden anhand von einigen Gesprächspassagen Kommunikationsmuster herausgearbeitet, die für die weitere Betrachtung der kommunikativen Verläufe Orientierung und Irritation bieten können. Die Aussagen der Beteiligten wurden anonymisiert und zum Teil redaktionell überarbeitet.2
Fremde Lebenswelten? Einige Momentaufnahmen
Die Kommunikationsprozesse, aus denen Gespräche, Bekanntschaften, Freundschaften, Konflikte und schließlich die künstlerischen Exponate entstanden, waren intensiv. Menschen mit unterschiedlichen Biographien und unterschiedlichen Zugängen zum Thema ließen sich aufeinander ein: Sie trafen sich regelmäßig, aßen miteinander, gewährten einander Einblick in die eigene Lebenswelt, tauschten Erfahrungen und Einsichten aus, stellten sich gegenseitig Fragen und machten sich – in einer Arbeitsgruppe wortwörtlich – gemeinsam auf eine Reise. Die folgenden Ausschnitte aus den Protokollen ermöglichen es, den Themen und der Dynamik, die die Arbeit in den Gruppen prägten, nachzuspüren.
Klischees
„Wenn eine Fee käme und sagt, du hast drei Wünsche frei, was würdest du dir wünschen?“
„Wir wünschen uns was eher von der Wunderlampe.“
„Ich dachte, die Wunderlampe sei ein Klischee.“
„Nein, von wem sollte man sich sonst etwas wünschen? Von der Wunderlampe wünschte ich mir oft, auf meiner Hochzeit das Hendl mit bloßen Händen zu essen ... Als es soweit war, war ich enttäuscht. Auf der Hochzeit wurde das Hendl in Stücken serviert.“
Klischees sind Denkschablonen, auf die wir zurückgreifen, wenn uns Informationen fehlen oder wenn wir glauben, keine zu brauchen. In den konkreten Begegnungen werden wir aber immer wieder überrascht und herausgefordert; den Bereich der verallgemeinernden und unpersönlichen Meinung zu verlassen bedeutet, sich den persönlichen Lebensgeschichten zu öffnen.
Identität
„Wie siehst du dich selber?“
„Ich bin österreichischer Staatsbürger, aber alles spricht dafür, dass ich Migrant bin. So sehen mich die Leute.“
„Als was würdest du dich bezeichnen?“
„Ich gehöre zu Österreich. Ich habe mich entschieden.“
„Als Vorarlbergerin, als Muslimin.“ „Als Migrant. Aber ich bin hier Zuhause.“
Moderne Menschen beanspruchen für sich meist umfassende, selbst gestaltete, vielfältige Identitäten. Gegenüber Menschen mit Migrationserfahrungen besteht allerdings oft der Mythos der eindeutigen und einfältigen Identität. Bewusst oder unbewusst wird „Eindeutigkeit“ gefordert, in der Begegnung merkt man aber: Identitäten sind dynamisch, Zugehörigkeiten sind nichts Ausschließendes. Gleichzeitig ist Zugehörigkeit nicht nur ein Gefühl, sondern auch eine soziale und politische Ressource, die nicht allen gleichermaßen zugestanden wird.
„Viele sagen, wir sollen uns mit Österreich identifizieren. Aber was nutzt das, wenn mich dann alle weiterhin ‚Ausländer’ nennen.“
Heimat
„Was ist Heimat für Dich?“
„Ich könnte überall leben.“
„Ich mag beide Länder.“
„Heimat? Österreich und die Türkei.“
„Heimat ist dort, wo meine Kindheitserinnerungen sind.“
„Als ich meine Papiere bekam, wusste ich, das ist jetzt meine neue Heimat.“
„Wo fühlst du dich daheim?“
„Du stellst Fragen!
Heimat ist ein komplexer Begriff, in den Menschen ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse legen. In seinen Ursprüngen ist Heimat zunächst ein juristischer Begriff, der Sicherheit verbürgt. Vor allem die deutsche Romantik prägte den Begriff als eine gefühlsbetonte Beziehung zu Natur und Landschaft. Immer noch wird Heimat als zeitloses Idyll verstanden, auch wenn durch politische Vereinnahmung (z. B. durch die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie) der Begriff für viele Menschen schmerzhaft und negativ behaftet ist. Mit Heimat verbinden Menschen tragende Erfahrungen der Sicherheit und Geborgenheit, der Zugehörigkeit und der Beziehung. Heimat ist somit Utopie und Wirklichkeit zugleich. In den Arbeitsgruppen erschlossen sich Zugänge zur Heimat als Ort der mehrfachen Zugehörigkeit, als nicht-ausschließender Ort. Im Integrationskonzept des Landes Tirol „Integration MIT Zugewanderten des Landes Tirol“ wird „Heimat“ auch als Aufgabe definiert, wenn es heißt:
„Tirol bietet den hier lebenden Menschen eine Heimat, in der sie Respekt für unterschiedliche Lebensentwürfe und Wertschätzung für soziale und kulturelle Vielfalt erfahren.“ 3
Was willst du hören?
„Mich würde aber interessieren, mehr von deinem ethnischen Hintergrund zu erfahren. Von den Familienstrukturen und Familienkonflikten. Die spielen doch bei euch eine große Rolle ...“
„Ich habe auch so was gehört.“
„Aber es spielen sich richtige Familiendramen ab ...“
„Darüber weiß ich weniger. Solche Geschichten gibt es sicher ...“
„Mich interessiert was du nicht sagst ...“
Beziehungen sind von Erwartungen geprägt. Von guten Freunden erwartet man, dass sie uns zum Geburtstag gratulieren. Erwartungen sind dennoch nicht rein persönlicher Natur, sie werden auch sozial geprägt. Von einem Universitätsprofessor zum Beispiel erwartet man sich besonders gewählte Wörter oder intelligente Bemerkungen. Soziale Erwartungen haben ihren Ursprung in der Zuschreibung zu bestimmten sozialen Gruppen. Von Menschen, die wir im Vorfeld bestimmten Gruppen zuordnen, erwarten wir bestimmte Haltungen, ein bestimmtes Verhalten und bestimmte Fähigkeiten. In Kommunikationsprozessen, bei denen die Kategorie „Migration“ oder „Migrationshintergrund“ im Raum steht, findet oft eine eigentümlich gegensätzliche Zuschreibung statt: Auf der einen Seite werden Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund trotz unterschiedlicher Biographien, Lebensbezüge und Wertvorstellungen als geschlossene, einheitliche Gruppe wahrgenommen. Auf der anderen Seite werden diesen Menschen biographische Hintergründe, Eigenschaften und Einstellungen zugeschrieben, die nicht etwa mit ihren sozialen, altersspezifischen, beruflichen oder politischen Wirklichkeiten zu tun haben. MigrantInnen (bzw. Menschen, die als solche angesehen und angesprochen werden) müssen vor allem mit einer so vagen wie wirkmächtigen Erwartung rechnen, die plakativ formuliert lautet: sei anders, sei fremd. In den Arbeitsgruppen waren solche Erwartungen, denen man sich nur schwer entziehen kann, unterschiedlich präsent. Einige Erwartungen mussten offenbleiben oder enttäuscht werden. Ent-Täuschungen sind aber oft der Beginn von echten Begegnungen.
Die Vielfalt in den Arbeitsgruppen
In den neun Arbeitsgruppen trafen 21 Menschen zusammen. Manche waren als „KünstlerInnen“ eingeladen worden, andere als „MigrantInnen“ und andere als „SozialwissenschaftlerInnen“. Es waren Menschen dabei, die diese „Rollen“ übernommen haben, andere haben sie relativiert oder gar verlassen. Die Gruppen waren vielfältig, dabei waren...
... Männer und Frauen / österreichische und nicht-österreichische StaatsbürgerInnen / KünstlerInnen und andere, die sich nicht als solche definierten / Menschen mit klareren und andere mit weniger klaren Vorstellungen über ihre Rolle in den Arbeitsgruppen / Menschen, die sich selbst als „MigrantInnen“ definierten und andere, die es nicht taten / einsprachige und mehrsprachige Menschen / Menschen, die am Land und andere, die in der Stadt aufgewachsen sind / Menschen mit einem gesicherten Einkommen und Menschen ohne gesichertes Einkommen / Menschen, die sich über die eigene Hautfarbe keine Gedanken machen müssen und Menschen, für die dies alltäglich zum Thema wird / Menschen, die sich mit aufenthaltsrechtlichen Fragen nicht auskennen und andere, die sich damit auskennen müssen / Menschen, die ihre sexuelle Orientierung zum Thema machten und Menschen die das nicht taten / Menschen die von sich sagten, sie seien religiös und Menschen, die das nicht taten / Menschen, die viel sprachen und Menschen, die länger schwiegen / Menschen, die von der „eigenen Kultur“ sprachen und andere, die sagten, Kultur sei nicht so wichtig / Menschen, die länger an unterschiedlichen Orten gelebt haben und Menschen mit weniger Mobilität in ihren Biographien / Menschen, die ihre Lebensgeschichte erzählten und andere, die es nicht taten / Menschen, die mit der gemeinsamen Arbeit zufrieden waren und andere, die es nicht waren / Menschen, die im Laufe des Prozesses sich immer mehr aufeinander einließen und Menschen, die sich immer mehr misstrauten / Menschen, die untereinander vor allem Differenzen feststellten und andere, die vor allem Gemeinsamkeiten entdeckten / Menschen, die sich in diesen Kategorien wiederfinden und andere, die es nicht tun ...
Warum mitmachen?
Allen Beteiligten war zweierlei gemeinsam: das Interesse am Thema und die Bereitschaft, in gemischten Gruppen die Idee einer kooperativen künstlerischen Zusammenarbeit zu verwirklichen. Die unterschiedlichen Positionen der TeilnehmerInnen, ihre unterschiedlichen Erfahrungen und die vom Projekt vorgegebenen Ausgangsrollen spiegelten sich auch in ihren Motivationen wider.
„Ich wusste ja nicht so viel von Kunst, ich wusste nur: Ich will meine Geschichte erzählen.“
„Viele haben einen verengten Blick auf die Welt. Ich möchte etwas tun, gegen den Strom rudern, ich möchte die Welt mitbestimmen, mitgestalten... ich möchte helfen, den Horizont zu erweitern ...“
„Eine Gruppenteilnehmerin berichtete, dieses Projekt sei eine gute Gelegenheit, um ‚zu Wort zu kommen’, ohne Angst zu haben, aufgrund des Kopftuches diskriminiert zu werden.“
„Ich dachte, das könnte eine Möglichkeit sein, mein Deutsch zu verbessern.“
„Ich glaube, ich bin auch persönlich vom Thema betroffen, irgendwie habe ich auch einen Migrationshintergrund.“
„Mich interessierte herauszufinden, was wir alle für Geschichten in uns tragen; wie in jeder Biographie nicht nur die eigene Geschichte, sondern die Geschichten der Ahnen präsent ist ...“
„Ich will meine Geschichte erzählen.“
Diese und andere Aussagen lassen erkennen, dass das Projekt tatsächlich einen heiklen Punkt in der Auseinandersetzung mit Migration und Integration getroffen hat. Vor allem für MigrantInnen war die Möglichkeit „selbst zu sprechen“ und die „eigene Geschichte zu erzählen“ ein zentrales Motiv. An die Arbeitsgruppen wurde der Anspruch gestellt, die Erzählungen und Positionen der MigrantInnen nicht nur ernst zu nehmen, sondern zum Angelpunkt der Verständigung und der künstlerischen Arbeit zu machen. Dadurch entstand ein Raum, in dem es möglich wurde, persönlichen Erfahrungen anzusprechen und sich zu Rassismus, Integration oder Heimat zu äußern.
Mitunter stellte die Arbeitsgruppe jedoch auch einen Raum dar, in dem sich der alltägliche Kampf um das Recht auf Selbstdefinition und -mitteilung wiederholte. „Gehört-Werden“ ist nicht gleich „Gehört-Werden“, auch das Zuhören ist eine Frage der Position und der Macht. Wer in der Lage ist zu bestimmen, was tatsächlich zur Sprache kommen kann, und was davon wieder gehört und beachtet wird, verfügt im Endeffekt über das Sprechen des Anderen. In diesem Widerspruch (der Wunsch, gehört zu werden und die Macht, Gehör zu schenken) war die Arbeitsgruppe für einige TeilnehmerInnen vor allem ein Raum des Konfliktes. Konflikte, Grenzsituationen und irritierende Erfahrungen beinhalten aber ein großes Lernpotenzial, so eine Teilnehmerin:
„Es war nicht einfach in der Gruppe zusammenzuarbeiten. Ich hatte das Gefühl, es ist nicht wichtig was ich sage oder will, sondern es gab schon eine klare Idee, was gemacht werden soll und ich musste einfach mitmachen. Ich konnte aber viel lernen, weil ich im Konflikt stärker geworden bin. Ich habe nicht losgelassen und habe auch meine Vorstellungen verwirklicht. Egal, ob ich verstanden wurde oder nicht ...“
Rollen und Positionen
Unterschiedliche Erfahrungen in der Zusammenarbeit weisen auf die strukturellen Schieflagen hin, die dem Projekt gewissermaßen innewohnten. Durch die unterschiedlichen Ausgangsrollen und Kompetenzzuschreibungen (KünstlerIn, MigrantIn, Sozialwissenschaftlerin) war bereits angelegt, wer mehr von sich preisgeben soll und wer mehr bestimmen darf. Diese Rollen waren aber nicht in Stein gemeißelt und wurden v. a. von denjenigen unterschiedlich behandelt und zum Teil verändert, die einen „Rollenvorteil“ hatten. Manche KünstlerInnen entschieden sich z. B. für Zurückhaltung bei der Themenfindung, während sie die künstlerische Umsetzung allein bestritten. Andere versuchten die gesamte Gruppe in allen kreativen Phasen einzubeziehen, wobei sie als „KoordinatorInnen“ des Prozesses wirkten. Ein Künstler beschloss mitten im Prozess, das gemeinsam entwickelte Konzept zu verwerfen und ein neues umzusetzen, was zum Teilausstieg des „Migranten“ führte. In einer anderen Gruppe gab es Konflikte um die Urheberschaft, als die Teilnehmerinnen mit den Rollen der „MigrantIn“ und der „Sozialwissenschafterin“ auf die gleichberechtigte Mitbestimmung bei der Fertigstellung des Exponats und auf eine Nennung als Mit-Konzipierenden pochten. Ein anderer Künstler beschloss, von Anfang an die Frage nach der Gleichberechtigung zu thematisieren und machte seine Rolle und seine eigene Geschichte selbst zum Thema. Auf diese Weise (so die Interpretation der Sozialwissenschaftlerin) war es möglich, dass „alle mehr von sich preisgaben und dass das Werk als gemeinsames empfunden wurde“.
Diese zusammenfassende Beschreibung der unterschiedlichen Strategien des Umgangs mit einer Schieflage soll nicht als Bewertung verstanden werden, denn es handelte sich um die individuelle und gruppenspezifische Umsetzung einer Aufgabe, die bereits in sich strukturelle Widersprüche aufwies. Die oben erwähnte Schieflage in den Rollen und Kompetenzen ging mit dem Anspruch einher, einerseits anerkannten und erfahrenen KünstlerInnen den notwendigen Freiraum für ihre künstlerische Arbeit zu gewähren, andererseits „das Recht auf Selbstdefinition und Selbstbestimmung“ einzumahnen.
Die Menschen blieben also nicht in den ihnen vorgegebenen Rollen verhaftet. Parallel, zeitverzögert oder querdurch fanden andere Prozesse statt. Es entstanden Nebeneffekte, die weder geplant noch beabsichtigt waren: Bekanntschaften und Netzwerke; von den (positiven und negativen) Erfahrungen angespornt setzten einige TeilnehmerInnen eigene Initiativen um; einige „MigrantInnen“ berichten von einer Erfahrung der Selbstermächtigung4, die gerade aus Konfliktsituationen in den Arbeitsgruppen entstanden. Das Interessante läuft nicht auf vorgefertigten Schienen, das Neue ist selten im Drehbuch vorgesehen.
Über Rassismus schweigen. Vom Rassismus sprechen.
Nachdem das Projekt „VIELFALT daheim IN TIROL“ Rassismus nicht explizit behandelte und keine ausdrücklich rassismuskritische Methodik anwandte, waren die Arbeitsgruppen und der Foto-Workshop jene Orte der Verständigung, in denen persönliche Erfahrungen mit, aber auch Gegenstrategien und Reflexionen über alltägliche, politische, institutionelle und kulturelle Rassismen angesprochen werden konnten. Das Thema Rassismus wurde in den Gruppen mit unterschiedlicher Offenheit und Intensität behandelt. In einigen Gruppen war das Thema nur unterschwellig vorhanden,5 in anderen Gruppen waren die Erfahrungsberichte und Standpunkte wiederum von zentraler Bedeutung, sodass sowohl die Gespräche als auch die künstlerische Arbeit sich stark darauf bezogen. Einige der Beteiligten betonten, dass die Gesprächsatmosphäre in den Arbeitsgruppen es ermöglichte, über Diskriminierungserfahrungen und den Umgang damit zu sprechen.
„In der Gruppe wussten wir wovon der andere redete, wir identifizierten uns allen als ‚Migranten’, auch wenn wir unterschiedliche Rollen hatten.“
„Nicht nur der „Migrant“ erzählte seine Geschichte, wir sprachen alle über unser Verhältnis zum Rassismus, auch z. B. darüber, wie schwierig es war, in der Familie über die Nazivergangenheit von Familienmitgliedern zu sprechen.“
Die Aufforderung, die Erzählungen der MigrantInnen in den Mittelpunkt zu stellen, wurde sowohl von den Menschen in der Rolle der „MigrantInnen“, als auch von den anderen Beteiligten konsequent ernst genommen. Dadurch wurden von Treffen zu Treffen immer persönlichere Erfahrungen geteilt und ganz konkretes Wissen und Reflexionen über Rassismus weitergegeben. Vor allem Alltagsrassismen, erlebten Formen des „Markiert-Werdens“, persönliche Haltungen und Gegenstrategien wurden zum Thema.
„Im Fasching starrten die Leute mich und meine Tochter an, mehr als die Leute, die kostümiert waren“.
„Es dauerte ein paar Monate, bis jemand in der Kirche mir die Hand zum Friedensgruß reichte.“
„Es muss niemand was sagen, aber du weißt, worum es geht. Es sind die Blicke, die sich hineinbohren ...“
„Im Dorf beobachtete mich jeder. Sie haben immer geschaut, was ich mache und wie ich mich bewege. Jeder interessierte sich für mein Verhalten. Aber nicht für mich.“
„Man wird im Bus komisch angesehen ... und dann immer wieder blöd angesprochen.“
„Wenn jemand mich durch Aussagen oder Haltungen diskriminiert, empfinde ich nicht zuerst Wut ... ich empfinde diese Menschen als arm.“
Anhand der Erzählungen wird klar, dass es bei Rassismus nicht nur um eine bewusste und beabsichtigte Form von Abwertung, Gewalt und Diskriminierung handelt. Eine Schwierigkeit ist, dass oft von einem individuellen und moralistischen Rassismus-Verständnis ausgegangen wird. Rassismus ist jedoch eingebettet in einen geschichtlichen, gesellschaftlichen und strukturellen Rahmen, in dem Menschen als „Andere“ markiert und dadurch eine Klassifizierung und Hierarchisierung von Menschen vorgenommen wird. Es geht nicht in erster Linie um die Feststellung, ob jemand bewusst und überzeugt eine rassistische Einstellung hat, sondern darum, rassistische Praktiken, ihre Effekte auf die Betroffenen und ihre Funktion in Institutionen, Strukturen und Systemen zu benennen.
Bereits bei der Konzeption des Projekts wurde darüber diskutiert, wie Rassismus thematisiert werden kann. Auf der einen Seite soll das Thema nicht ausgeblendet werden; dies passiert in der Gesellschaft nur allzu oft. Auf der anderen Seite sollte die Beschäftigung mit Rassismus nicht von außen an die Beteiligten herangetragen werden. Über Themen und Erzählungen selbst zu bestimmen, war das oberste Prinzip. Das Ergebnis ist widersprüchlich. Das Thema Rassismus war da, aber Konzept und Strukturen ermöglichten nicht, dass es in den Exponaten als das erkenntlich wurde, was es ist: das größte Hindernis für Integration.
1 Mitarbeit: Mona Aglan, Aygül Berivan Aslan, Isabella Hafele, Alexandra Kiener, Kerstin Rössler, Selda Sevgi.
2 Allen Beteiligten sei an dieser Stelle gedankt, dass sie uns an ihren intensiven und lehrreichen Kommunikationsprozessen teilhaben ließen. Danke auch an die Sozialwissenschaftlerinnen, ohne deren Engagement und sorgsamen (selbst)reflexiven Protokolle es diesen Beitrag nicht geben könnte.
3 Verfügbar unter https://www.tirol.gv.at/themen/gesellschaft-und-soziales/integration/integrationskonzept/, zuletzt abgerufen am 01.09.2010
4 Selbstermächtigung, oder auch (Self-)Empowerment genannt, umfasst den Zustand selbstbestimmten Handelns, aber auch all jene Strategien, die es Menschen ermöglichen ihre Interessen selbstbestimmt und selbstverantwortlich wahrzunehmen.
5 Über das Nicht-Gesagte kann nicht berichtet werden. Deshalb werden hier nur einige der Gesprächsverläufe geschildert, ohne diese als Erklärungen für konkrete Wechselwirkungen in den Gruppen zu verwenden. Empfohlene Beiträge und Werke zu Gründen, Formen und Auswirkungen des Schweigens über Rassismus: Arndt, Susan (2005): Mythen des weißen Subjekts: Verleugnung und Hierarchisierung von Rassismus; Kalpaka, Annita (1994) (Hg.): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Köln: Dreisam-Verlag; Melter, Claus / Mecheril, Paul (Hg.) (2009): Rassismustheorie und -forschung. (=Rassismuskritik Band 1). Schwalbach: Wochenschau Verlag